Der Medienkonsument und das Mehr

Leben online und leben offline

Artikel für die Neue Zürcher Zeitung

Dort in gekürzter Fassung veröffentlicht am 29.06.2011 unter dem Titel: "Medienausbildung als Lebensschule".

 


Reaktorunglück in Japan, Revolution in Libyen, Prinzenhochzeit in London – es gibt Zuspitzungen von Aktualität, die unsere Aufmerksamkeit voll in Beschlag nehmen und die man möglichst in Echtzeit mitverfolgen will. Man wähnt sich unmittelbar Zeuge des fernen Events und ist sich dabei der Mittelbarkeit der Übertragungsmaschinerie nicht bewusst. Live-Sendungen am Fernsehen, Welt alive.

 

„Medien sind meine Welt, und hier bin ich mitten drin“ sagt eine junge Frau auf der Titelseite desJahresberichts 2010 der Radio- und Fernsehgenossenschaft Zürich-Schaffhausen RFZ. Medien als ein Mittel der Weltaneignung.

 

Weltaneignung ist ein Prozess, in dem wir uns ständig befinden, nicht nur über Medien, sondern auch über unsere alltäglichen Erfahrungen, über Gespräche, über Kunst. Als Mittel einer systematischen, ja curricularen Weltaneignung werden Medien im Unterricht und in der Ausbildung eingesetzt. Bezeichnenderweise lautete der Titel eines Kongresses, den kürzlich Institutionen für Medienpädagogik gemeinschaftlich in Berlin durchführten: Keine Bildung ohne Medien.

 

Ist aber eine über Medien angeeignete Welt deshalb auch wirklich „meine Welt“?

 

Medien sind zunächst einmal Umwelt. Früher hatte man – auch in der Medienerziehung – einzelne Medien im Fokus: Film, Fernsehen, Zeitungen. Alle diese als Einzelprodukte wahrgenommenen Kassetten, Sendungen, Print sind heute zu einer kontinuierlichen Umwelt zusammen gewachsen. Zusammen geflossen müsste man eher sagen, wenn man bei der herrschenden Metaphorik für die Omnipräsenz der Medien bleiben will: Medienflut, Bilderschwemme, Nachrichtenströme, Dauerberieselung – alles Ausdrücke, die auf ein aquatisches Milieu hinweisen. So mag auch eine Hemingwaysche Lesart „Der Medienkonsument und das Meer“ zutreffen: Wir tauchen ein ins Datenmeer, konsumieren Medien als Streaming und Surfen, und auch der Begriff Navigieren ist nautisch angehaucht.

 

Wenn nun die allgegenwärtigen Medienangebote zu einem umfassenden, umspülenden Lebens-Medium geworden sind, wie es das Wasser für die Fische darstellt, legt dieser Sog des Abtauchens unwillkürlich eine tiefenpsychologische Deutung nahe.

 

Entwicklungspsychologisch gesehen, stellt sich, da Leben „aus dem Wasser kommt“, ein Begriff wie Regression ein. Der Rückzug ins nasse Element liesse sich im Hinblick auf die individuelle Entwicklung – also in ontogenetischer Perspektive – als Sehnsucht nach der Aufgehobenheit im Uterus deuten, die ständige Berieselung aus den Boxen oder dem iPod als das atavistische Umspültsein von digitalem Fruchtwasser. Der von den Medien umflutete Mensch würde damit zu einer Art Embryo aeternus regredieren.

 

Phylogenetisch, also die stammesgeschichtliche Entwicklung betreffend, würde Regression auf die urtümliche Ausgangslage verweisen, in der Leben entstanden ist, eben im aquatischen Milieu. In der hochmolekularen „Ursuppe“ formierten sich komplexe Eiweissstrukturen zu Einzellern, diese dann im Laufe von Jahrmillionen zu Vielzellern. Mit der immersiven Wende der Medienüberflutung wären wir gewissermassen in ein Urmedium zurückgekehrt: in eine mediale Ursuppe. Bezeichnenderweise titelt die gefeierte Berliner Jungautorin Helene Hegemann ihren Erstling mit „Axolotl Roadkill“. Das molchartige aquatische Urtier Axolotl wächst nicht zu einer auch terrestrisch lebensfähigen Amphibie aus, sondern wird im Larvenstadium geschlechtsreif, und, falls sie dann doch an Land kriecht, endet die Eskapade – schluchz – letal: roadkill.

 

Aber auch wenn man auf dieser stammesgeschichtlichen Entwicklungslinie einen gewaltigen Sprung macht, bleibt immer noch eine metaphorische Verbindung zur Medienumwelt bestehen. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset, vor allem bekannt durch die 1931erschienene Publikation „Der Aufstand der Massen“, beschreibt in einem etwas später erschienenen Essay Beobachtungen vor einem Affengehege. Ihm fällt auf, dass diese behenden Geschöpfe „beständig aufmerksam und in dauernder Unruhe sind, dass sie alles beobachten und auf alles hören, was in ihrer Nähe vorgeht, dass sie unermüdlich auf ihre Umgebung aufpassen.“

 

Man kann nicht umhin, eine Verbindungslinie zu einem typischen zeitgemässen Mediennutzungsverhalten herzustellen. Medienterminologisch liesse sich nämlich sagen: die von Ortega beschriebenen Affen sind ständig „auf Empfang“.

 

Nun: Auf ungewöhnliche Aussenreize zu reagieren und die Aufmerksamkeit ungeteilt auf einzelne Gegenstände oder Vorgänge richten zu können, ist zwar eine Fähigkeit, über die die meisten höheren Lebewesen verfügen und die auch dem Menschen eigen ist. Anderseits kann der Mensch – und nur der Mensch –, fährt Ortega y Gasset fort, „von Zeit zu ... seine Umgebung unbeachtet lassen und sich aus ihr lösen, er kann in der Ausübung seiner Fähigkeit nachzudenken der Welt in einer radikalen – zoologisch unverständlichen Weise – den Rücken kehren.“ Anders gesagt: Nur der Mensch kann offline gehen.

 

Da fällt auf, wenn Wolf-Dieter Ring, der Präsident der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, in einem Sonderheft über Unterwegs-Internet schreibt: „Immer auf Empfang. Stets online dank Smartphones und günstigen Flatrate-Tarifen so verspricht es das Marketing-Szenario für das mobile Internet“ (Tendenz 3.10).

 

Der Befund ist pikant, denn auch aus neuster Sicht der Linguistik hat sich Sprache und Bewusstsein aus der subhumanen Vorphase heraus nur dank einer Offline-Voraussetzung entwickeln können, wie kürzlich der Aachener Linguist Ludwig Jäger in einem Workshop des ETH-Laboratoriums für Angewandte Virtualität ausführte. Die Situationsentkoppelung eröffnet die Fähigkeit, sich an mentale Szenen zu erinnern und sich künftige vorzustellen. Mit dem aufkeimenden Bewusstsein entsteht auch ein Ich-Bewusstsein, wird die Konstituierung einer personalen Instanz eingeleitet, – all dies beruht also, immer gemäss Ludwig Jäger, auf der genannten Offline-Voraussetzung.

 

Selbstredend sind auch E-Mails eine Möglichkeit, sich gedanklich auszutauschen, Chat-Foren eine Gelegenheit zur Diskussion. Aber interessanterweise geht die Faszination, z.B. bei Facebook, von situationsgebundenen Kommunikaten aus. Man will unbändig erfahren, womit gerade all die zahlreichen Freunde beschäftigt sind. „Liege im Garten an der Sonne“, „Bin gerade am Einkaufen“, so und ähnlich lauten die banalen Mitteilungen (vgl. auch Christa Dürscheid u.a., Wie Jugendliche schreiben, Berlin 2010, und Daniel Süss, JAMES-Studie, ZHAW 2010). Auch das immer beliebtere Multitasking, das „gleichzeitige“ Konsumieren verschiedener Medien, beansprucht eine volle Zuwendung. Da sind wir nicht weit weg von Ortegas Betrachtungen. Wenn dann Medien in diesem Sinne „meine Welt“ werden, ist dies trotz Weitläufigkeit der Schauplätze und Vielzahl von „Freunden“ eine enge Welt.

 

Einschränkend muss gesagt sein: es ist vor allem der Live-Charakter der Online-Kommunikation, der eine regressive Potenzialität aufweist und nicht einfach Medialität an sich.

 

Am besten lässt sich dies nachvollziehen am Beispiel des gedruckten Mediums. Die grösste Medienrevolution aller Zeiten fand vor etwa 8000 Jahren statt mit der Erfindung der Schrift. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der Menschheit war es damit möglich geworden, Erfahrungen extrasomatisch, nämlich ausserhalb des Gedächtnisses, zu speichern. Damit konnte die Welt über den Radius der mündlichen Tradierung hinaus unendlich erweitert werden – z.B. auch um virtuelle Welten. Das Lesen von Texten unterscheidet sich indes markant von anderen alltäglichen Wahrnehmungen von Aussenreizen. Es wird ein innerer Prozess ausgelöst, ein Prozess zunächst der Entschlüsselung und dann des Nachdenkens. Lesen läuft mithin nicht einfach ab als eine Abfolge von Reiz und Reaktion, sondern erweist sich als ein Aufbruch in einen geistigen Raum, in die Innerlichkeit.

 

Allerdings gibt es bei der alltäglichen Print-Information – angesichts der anfallenden Datenmenge – auch das notwendig oberflächliche Lesen als routinemässige Informationsabfrage. Just das Mehr an Information – z.B. bei Surfen im Netz – bringt neue Probleme. In Analogie zur Halbwertszeit bei radioaktivem Material müsste man beim ständigen Anschwellen der Information von einer Doppelwertszeit sprechen. Diese soll gegenwärtig hinsichtlich des Web ein Jahr betragen, d.h. jedes Jahr verdoppelt sich die Datenmenge im Netz.

 

Die frühen Medien der Schriftlichkeit, vor der Erfindung des Buchdrucks, lösten ausser der Offline-Speicherung gerade noch ein weiteres Problem, das der Selektion. Der Speicherplatz, ob nun Tontäfelchen oder Pergament, war kostbar, das Trägermaterial in der Beschaffung aufwändig und entsprechend teuer. Es lohnte sich also nur festzuhalten, was wesentlich war. Den Luxus, Unwesentliches aufzuzeichnen, können wir uns erst leisten seit der Verfügbarkeit von billigem Speichermaterial, von Papier bis hin zu den Chips. Eine Pergamentseite hat zudem noch den Vorzug, dass wir sie – im Gegensatz zu den zerfallenden modernen Speichern – auch noch tausend Jahre später lesen können.

 

In der modernen Informationshochflut, ohne die unsere Gesellschaft, unsere Demokratie nicht lebensfähig wäre, kann nun aber die Informationsversorgung nach Mass für den Einzelnen nicht einfach vom Kommunikator geleistet werden, denn eine Selektion muss auch aus der Perspektive jedes einzelnen Rezipienten, von „seiner Welt“ aus, vorgenommen werden können. Und dies ist nur durch eine entsprechende Bildung möglich, die insbesondere auch die Medienbildung umfasst. Der eingangs erwähnte Slogan „Keine Bildung ohne Medien“ müsste in dem Sinne ergänzt werden, dass er auch als „Keine Medien ohne Bildung“ gelten kann. Dem Wissen muss ein sokratisches Fragen und Nachfragen vorausgehen (Bernd Roeck, NZZ, 23. 4. 2011). Nicht umsonst meinte Apple-Guru Steve Jobs: „Ich würde all meine Technologie für einen Nachmittag mit Sokrates eintauschen.“ (Journal 21, 19. 4. 2011) In einen sokratischen Dialog eintreten können wir auch über Medien. Bildung als Ganzes bleibt indessen ein Prozess, der über weite Strecken auf Offline angewiesen ist, auf Phasen von unabhängiger innerer Verarbeitung und eigenständigem Denken.

 

 

Weiterführende Publikation: „media in media – Texte zur Medienpädagogik“Verlag Pestalozzianum, Zürich 2005.